Berufliche Rehabilitation nach Sehverlust: Gemeinsam neue Perspektiven schaffen

von links nach rechts: Herr Bergs, Herr Kiefers und Herr Bachem schauen lächelnd in die Kamera. Herr Bergs und Herr Kiefers sitzen an einem Bildschirmarbeitsplatz, beide tragen Brillen mit schwarzem Rand und ihr dunkles Haar kurz. Herr Bachem steht rechts daneben und stützt sich auf dem Schreibtisch ab. Er trägt ein graues Sacko und ein blaues Hemd.

Wie wertvoll Aus- und Weiterbildung für Unternehmen sind

Wir haben bei uns im Berufsförderungswerk das große Ziel, neue Perspektiven für unsere Teilnehmenden zu schaffen und ihnen die Möglichkeit zu geben, wieder einen Beruf auszuüben. So muss die Karriere nach der Diagnose einer Augenerkrankung nicht vorbei sein, denn wir bieten am BFW Düren viele Wege für die berufliche Rehabilitation nach Sehverlust an. In dem folgenden Artikel wird von einem unserer Teilnehmenden berichtet.

wirtschaftliche NACHRICHTEN der IHK Aachen, 11/22 – Artikel von Daniel Boss

In der Pflege zu arbeiten, war Dominik Kiefers Traumberuf. Mit seiner Stelle als Pflegehelfer in einer Rehaeinrichtung für Orthopädie, Psychosomatik und Neurologie war der junge Saarländer sehr zufrieden. Allerdings musste er immer mit der Sorge leben, diesen Beruf eines Tages nicht mehr ausüben zu können. Von Geburt an leidet er untereiner sogenannten Retinitis pigmentosa. Aufgrund dieser Netzhautdegeneration wird sein Gesichtsfeld kleiner und kleiner. „Am Ende steht die Blindheit“, sagt Kiefer. Heute kann er gerade noch sein direktes Gegenüber erkennen. An eine Tätigkeit als Pflegekraft ist längst nicht mehr zu denken. „Es ging einfach nicht mehr“, sagt der 26-Jährige. Er hat sich damit abgefunden, dass sein erstes Berufsleben schon nach wenigen Jahren beendet ist. Seit Sommer steuert er nun ein neues Ziel an.

Im Berufsförderungswerk Düren bereitet sich der angehende Kaufmann für Büromanagement auf seine Zukunft vor. Im Moment lernt er Buchführung, befasst sich mit den Feinheiten des kaufmännischen Schriftverkehrs und optimiert seine Fähigkeiten in Word, Excel und Co. „Ich arbeite fast ausschließlich am Rechner“, erzählt er. Dabei benutzt er unter anderem eine sogenannte Braillezeile, die ihm den Monitor ersetzt: Mit den Fingern kann er die jeweiligen Texte und Zahlenkolonnen „ablesen“. Diese Fähigkeit hat er in der sogenannten „blindentechnischen Grundrehabilitation“ erworben. Hier lernen Menschen mit Sehbehinderung oder Blindheit, ein autonomes Leben zu führen. Sie absolvieren zum Beispiel ein „Langstocktraining“ oder üben, wie sich unterschiedliche Geldscheine oder Münzen erkennen lassen – und wie man am Morgen die richtige Kleidung aus dem Schrank holt. Auch das findet in Düren statt.

Die Finger von 2 Händen sind auf einer Braillezeile zu sehen
Wichtiges (Hand)-Werkzeug: Eine sogenannte Braillezeile ermöglicht es Menschen mit Sehbehinderung mit den Fingern Texte und Zahlenkolonnen abzulesen

Rund 150 Männer und Frauen besuchen derzeit das Berufsförderungswerk, um den bisherigen Beruf weiter ausüben zu können oder eine neue berufliche Perspektiven zu bekommen. Die meisten von ihnen wohnen im Internat. Denn weil es nur drei Einrichtungen dieser Art in Deutschland gibt – neben Düren sind das Halle/Saale und Würzburg – , habenviele ihren Lebensmittelpunkt nicht gleich um die Ecke. „Etwa 70 Prozent unserer Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen aus ganz NRW, die anderen sind zwischen München und Kiel zuhause“, erklärt René Bergs, der die pädagogische Leitung innehat. „Und eine Qualifizierung dieser Art ist nur vor Ort möglich.“ Deswegen hat auch Kiefer das Saar- gegen das Rheinland eingetauscht: „Zum Glück hatte ich eine gute Beraterin bei meiner Arbeitsagentur, die mich auf die Möglichkeit in Düren hingewiesen hat.“ In
der Regel handelt es sich bei den Maßnahmen der gGmbH um „Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben“, kurz LTA.

Leistungsträger sind entweder die Deutsche Rentenversicherung oder die Bundesagentur für Arbeit, auch Berufsgenossenschaften und Unfallversicherungen kommen in Frage. Im Rahmen einer sogenannten Arbeitserprobung wird zunächst ermittelt, welcher Beruf am besten geeignet wäre. Besonders häufig ist, neben dem Kaufmann für Büromanagement, der Fachpraktiker für Bürokommunikation oder der Verwaltungsfachangestellte. In NRW besteht zudem die Möglichkeit einer neunmonatigen Fortbildung für den Landesdienst. „Damit von Anfang an verbunden ist eine sichere Stelle nach Abschluss“, sagt Bergs.

Hoch motivierte Bewerber*innen, die bei Unternehmen gefragt sind

Doch auch in der freien Wirtschaft werden die Chancen für die Absolventinnen und Absolventen immer besser. „Die Unternehmen stellen fest, dass viele Menschen mit visuellem Handicap und einer
erfolgreich durchlaufenen beruflichen Reha als hoch motivierte Bewerberinnen und Bewerber auftreten“, sagt Marcus Bachem, Teamleiter für die Büroberufe. „Die staatlichen Förderungen sind ein weiterer Anreiz.“ Und auch wenn man nicht offiziell von einer „Ausbildung“ sprechen kann –„Umschulung“ ist der korrekte Begriff – haben die Teilnehmenden nach zwei Jahren ein IHK-Zertifikat in der Hand. „Erworben in einem theoretischen Part – hier fungiert das Berufsförderungswerk sozusagen als Berufsschule – und durch zwei dreimonatige Praktika in Unternehmen“,
erklärt Bachem. In Zeiten verstärkter Nachfrage vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels müsse man mittlerweile aufpassen, dass wir die Menschen nicht zu früh integrieren, also in den Beruf schicken“, sagt der pädagogische Leiter. Es wäre fatal, wenn jemand die Probezeit nicht überstehe, nur weil die nötige Vorbereitung gefehlt habe. Denn die Umschulung habe es laut Bergs in
sich. Das habe auch damit zu tun, dass neben der Sehbehinderung oder Blindheit häufig weitere Einschränkungen hinzukommen, seien sie körperlicher oder psychischer Natur. Manche Menschen sitzen im Rollstuhl, andere sind gehörlos. Die Leistungsniveaus sind sehr individuell ausgeprägt. „Es kann vorkommen, dass jemand, der in seinem Beruf buchstäblich noch nie einen Computer einschalten musste, neben Akademikern in einer Gruppe sitzt. Auf jeden Menschen müssen wir daher
individuell eingehen“, sagt Bergs. Entsprechend hoch ist der Personalaufwand. Rund 130 Mitarbeitende zählt das „BFW“ an der Karl-Arnold-Straße. „Die meisten sind interdisziplinär tätige Spezialisten“, sagt Bergs. „Aus diesem Grund ist der Fachkräftemangel für uns eine besonders große Herausforderung. Wir suchen Leute aus der Nische der Nische.“ Kiefer hat vielleicht schon im ersten Lehrjahr seinen Wunsch-Arbeitgeber gefunden – es ist sein alter. „Ich absolviere voraussichtlich demnächst mein Praktikum in der Reha-Einrichtung im Saarland.“